Regisseurin Christine Eder im Interview

Wie wichtig ist es, über Klassismus zu sprechen?

Es ist immens wichtig, über Klassismus zu sprechen, aus dem einfachen Grund, dass davon Betroffene selten in die Lage kommen, aus eigener Anschauung zu berichten. Der privilegierten Mehrheitsgesellschaft fehlt es schlicht an Wissen über die tatsächlichen, alltäglichen Auswirkungen von Klassismus, über die Lebensumstände gesellschaftlich benachteiligter Menschen. Statistiken zur Bildungs- und Chancengerechtigkeit, zu den bescheidenen Aufstiegsmöglichkeiten aus sogenannten bildungsfernen Schichten sind bekannt.

Die Zahlen sind erschreckend, doch Lösungsversuche greifen häufig zu kurz, weil es Entscheidungsträger*innen schlicht an einem tieferen Verständnis mangelt. Selten werden Schilderungen tatsächlich Betroffener einer breiten Öffentlichkeit bekannt – wie auch, wenn es an Sichtbarkeit und Zugang zur eben dieser Öffentlichkeit fehlt? Genau wie an den dafür erforderlichen Voraussetzungen und Mitteln: an Vernetzung und Geld, an Wissen und Bildung, an Reflexions- und Ausdrucksfähigkeit, an Gesundheit und häufig einfach an Zeit für sich selbst bzw. für die geistige Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen.

Der französische Autor Edouard Louis, einer der wenigen, der sich Sichtbarkeit erkämpft hat und sich in seinen autobiografischen Büchern mit der eigenen Sozialisation in unbeschreiblicher Armut auseinandersetzt, verwendet dafür den Begriff „Klassengewalt“. Denn es geht nicht allein um ökonomische Ungleichverteilung, um finanzielle Armut – die mit etwas politischem Willen behoben werden könnte – sondern vielmehr um den fehlenden Zugang zu allem, was ein freies, selbstbestimmtes Leben ausmacht: Bildung und Wissen, kulturelle und gesellschaftliche Beteiligung, soziale Kompetenz, Zeit und Möglichkeit zu geistiger Auseinandersetzung, Entwicklung und Wachstum. Ein Leben am unteren Rand der Gesellschaft bedeutet gesellschaftlichen Ausschluss und ist geprägt von Ausbeutung und Benachteiligung. Strukturelle Gewalt, politisch nicht ungewollt, in Ämtern reguliert und durch staatliche Behörden exekutiert.

Alles bleibt so, wie es ist und immer schon war, vererbt über Generationen. Es ist eine brutale Form der ökonomischen, sozialen und geistigen Sklaverei. Eine gesellschaftlich vorgesehene Entmündigung, ein verordneter Ausschluss, der allen nützt, außer den Sklaven selbst. Davon profitieren nicht nur multinationale Konzerne, sondern letztlich wir alle – die privilegierte Mehrheit, die sich vorm Abstieg in Sicherheit wähnt. Den allermeisten Menschen, denen es besser geht, sind derartige Lebensumstände unbekannt. Es ist schwer nachvollziehbar, schier unbegreiflich, weshalb „Arme“ ihre Lebensbedingungen nicht einfach „verbessern“ oder „was aus sich machen“.
Umso wichtiger ist es, den Berichten und Geschichten von Betroffenen Sichtbarkeit zu verschaffen.

Was braucht es an Voraussetzungen, um überhaupt über einen Aufstieg nachzudenken?

Zum Nachdenken über Aufstieg musst du denken können, dass ein anderes Leben für dich überhaupt denkbar ist. Denken können, von Veränderung träumen, braucht Zeit und einen weiten Horizont. (Wer oder was erweitert den Horizont?) Das Leben als Möglichkeitsraum zu begreifen, als Erfahrungsprozess, den wir selbst gestalten können, ist keine Selbstverständlichkeit für alle, sondern ein Luxus, den sich nur einige wenige leisten können. Für einen größeren Teil der Menschen ist es einfach nicht vorgesehen, etwas anderes zu machen, als das, was das unmittelbare Überleben sichert. Körperlich anstrengende, schlecht bezahlte Arbeit, prekäre Lebensbedingungen, permanente Sorgen um die nächste Miete, die nächste Mahnung, die nächste Mahlzeit, die nächste Ausgabe für Kinder, Reparaturen oder Unvorhergesehenes bedeuten fast immer ein krankmachendes Leben im Dauerstress. Auch dazu gibt es Studien. Vor allem aber bleibt keine Zeit zum Träumen über den eigenen Horizont hinaus.

Die Voraussetzungen zum Aufstieg werden uns buchstäblich in die Wiegen gelegt. Nicht jedes Kind wächst mit allabendlichen Gutenachtgeschichten auf. Nicht jedes Kind isst täglich eine warme Mahlzeit. Nicht jedes Kind putzt regelmäßig Zähne, hat Musikunterricht, Ballettstunden, Hausaufgabenbegleitung, nicht jedes Kind war schonmal im Theater, in der Kinderoper, im Museum, nicht jedes Kind ist schonmal mit dem Zug gefahren, geschweige denn geflogen oder überhaupt einmal verreist.
Nicht alle Eltern haben Zeit und Kapazitäten, um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen, ihnen vorzulesen, von der Welt zu erzählen, Zusammenhänge zu erklären oder Quality Time mit ihnen zu verbringen. Nicht alle Eltern sind liebevoll, geduldig und zugewandt, nicht alle Eltern haben das Geld, um ihren Kindern „Horizont“ zu bieten. Nicht alle Eltern finden „Aufstieg“ sinnvoll oder überhaupt erstrebenswert.
Denn schon sie hatten nie die Möglichkeit darüber nachzudenken, von Veränderung zu träumen, niemand hat ihren Horizont erweitert, niemand hat sie gelehrt, dass es möglich ist, über das hinaus zu denken, was für sie, ihre Familie, ihr soziales Umfeld, „schon immer“ vorgesehen war und ist.

Wahrscheinlich gehört zum Nachdenken über „Aufstieg“ in gewisser Weise auch Leidensdruck. Eine Art Krankheitseinsicht, die Erkenntnis, dass unter den gegebenen Umständen ein Leben nach eigenen Vorstellungen und Träumen nicht möglich sein wird. Zudem natürlich Resilienz, die Hoffnung, dass Veränderung schaffbar ist, und der unbedingte Wille, sich bessere Perspektiven zu schaffen, als die vorgezeichneten.


Und nicht zuletzt eine Abwendung, mitunter sogar der radikale Bruch mit dem bisherigen Lebensumfeld. Doch schon dieser Erkenntnisprozess setzt voraus, dass ein Individuum in der Lage ist, sich selbst in der Welt zu verorten, sich als selbstbestimmt und unabhängig zu begreifen und zu wissen, dass der weitere Weg durch eigene Kraft zu meistern ist.

Ich nehme an, dass dieser Denkprozess in den seltensten Fällen ohne äußeren Anstoß in Gang kommt, dass es dafür initiale Momente und auslösende Ereignisse gibt und dass es eine Vielzahl helfender, unterstützender Personen braucht, die die weitere Entwicklung begleiten: Aufmerksame Lehrer*innen, zugewandte Nachbar*innen, Trainer*innen, Bibliothekar*innen, Ermöglicher*innen, Förderer*innen im Umfeld.

Hast Du persönliche Erfahrungen in diesem Bereich und wenn ja, welche?

Mein Vater ist das jüngste von 14 Geschwistern, Bergbauernfamilie, bitterste Armut, 1 Paar Schuhe, 1 Alltagsgewand, 1 Sonntagsgewand (vererbt), jeder/r einen Löffel. Ich kenne viele seiner Geschichten, in meinem Kopf tragen sie Titel wie: „das verlorene Ministrantengeld“, „die verschenkte Schwester“, „die erste Zahnbürste“, „Danke, Vater, für die Schläg‘“, „Tischmanieren für Bauern“, „Rauswurf aus dem katholischen Internat“. Seine Ausbildung hat die Kirche finanziert, er sollte Pfarrer werden, wurde dann aber Professor für Erziehungswissenschaft. Ein Aufstieg.

Meine Mutter ist die älteste von 5 Geschwistern, ihre Eltern sind Vertriebene aus der Vojwodina, im 2. Weltkrieg alles verloren, als Teenager im Arbeitslager in der UdSSR, nach Kriegsende in Österreich bei Null angefangen, falsche Herkunft, falsche Sprache, Tag und Nacht gearbeitet, viel im Pfusch, ein Haus gebaut, ein Unternehmen gegründet, allen 5 Kindern eine Ausbildung finanziert, ein zweites Haus gebaut, Enkel versorgt, später, im Ruhestand gereist: Russland, Ukraine, Frankreich, Argentinien, USA, Israel. Meine Mutter hat studiert und wie ihre 4 Geschwister alles dafür getan, dies zu können: abgespart, gehungert, verzichtet – bis es „besser“ wurde. Ein Aufstieg.

Alle 5 Kinder meiner Eltern haben studiert. Wir sind Aufsteigergeschwister in 2. Generation. Und dennoch sind meine Herkunftsfamilien randständige, da war immer kein Geld, schon gar kein ‘altes Geld‘, kein Stammbaum bis ins 15. Jhdt, bloß Lücken und lose Fäden, keine Sicherheitsnetzwerke, über Generationen gewachsen, sondern nur das, was sich in einer Menschenlebensspanne mit eigener Hände Arbeitskraft und Einsatz bis zum Umfallen erschaffen ließ.

Mein Klassenlos ist ein kleines bisschen randständig und dennoch mittendrin, denn ich hatte das Privileg, in genau diese Konstellation geboren zu sein: bildungsorientierte Eltern, Vorfahren, die ein Bewusstsein für den Wert von Kultur, von Kultiviertheit hatten, eine Neugierde aufs Leben und eine Idee davon, was sie mir vermitteln wollten, um mir und meinen Geschwistern einen weiten Horizont zu geben, mich in die Lage zu versetzen, mein Leben als Möglichkeitsraum zu denken, als Gestaltungsrahmen, mit dem ich machen kann, was ich will.

Christine Eder, 1976 in Linz geboren, studierte Theaterregie an der Universität Hamburg. Seit 2005 realisierte sie als freie Regisseurin fast 40 Theaterstücke und -projekte an großen und mittleren Bühnen im deutschsprachigen Raum, u.a. am Thalia Theater Hamburg, Volkstheater München, Volkstheater Wien, Schauspielhaus Wien, Werk X Wien und Theaterhaus Jena. Weitere Arbeiten führten sie nach Prag, Palermo, Lampedusa, Athen und Tel Aviv. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Nestroy-Preis für die „Beste Off-Produktion“ mit Proletenpassion 2015ff. sowie den Dorothea-Neff-Preis für beste Regie für Alles Walzer 2017.