Es ist immens wichtig, über Klassismus zu sprechen, aus dem einfachen Grund, dass davon Betroffene selten in die Lage kommen, aus eigener Anschauung zu berichten. Der privilegierten Mehrheitsgesellschaft fehlt es schlicht an Wissen über die tatsächlichen, alltäglichen Auswirkungen von Klassismus, über die Lebensumstände gesellschaftlich benachteiligter Menschen. Statistiken zur Bildungs- und Chancengerechtigkeit, zu den bescheidenen Aufstiegsmöglichkeiten aus sogenannten bildungsfernen Schichten sind bekannt.
Die Zahlen sind erschreckend, doch Lösungsversuche greifen häufig zu kurz, weil es Entscheidungsträger*innen schlicht an einem tieferen Verständnis mangelt. Selten werden Schilderungen tatsächlich Betroffener einer breiten Öffentlichkeit bekannt – wie auch, wenn es an Sichtbarkeit und Zugang zur eben dieser Öffentlichkeit fehlt? Genau wie an den dafür erforderlichen Voraussetzungen und Mitteln: an Vernetzung und Geld, an Wissen und Bildung, an Reflexions- und Ausdrucksfähigkeit, an Gesundheit und häufig einfach an Zeit für sich selbst bzw. für die geistige Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen.
Der französische Autor Edouard Louis, einer der wenigen, der sich Sichtbarkeit erkämpft hat und sich in seinen autobiografischen Büchern mit der eigenen Sozialisation in unbeschreiblicher Armut auseinandersetzt, verwendet dafür den Begriff „Klassengewalt“. Denn es geht nicht allein um ökonomische Ungleichverteilung, um finanzielle Armut – die mit etwas politischem Willen behoben werden könnte – sondern vielmehr um den fehlenden Zugang zu allem, was ein freies, selbstbestimmtes Leben ausmacht: Bildung und Wissen, kulturelle und gesellschaftliche Beteiligung, soziale Kompetenz, Zeit und Möglichkeit zu geistiger Auseinandersetzung, Entwicklung und Wachstum. Ein Leben am unteren Rand der Gesellschaft bedeutet gesellschaftlichen Ausschluss und ist geprägt von Ausbeutung und Benachteiligung. Strukturelle Gewalt, politisch nicht ungewollt, in Ämtern reguliert und durch staatliche Behörden exekutiert.
Alles bleibt so, wie es ist und immer schon war, vererbt über Generationen. Es ist eine brutale Form der ökonomischen, sozialen und geistigen Sklaverei. Eine gesellschaftlich vorgesehene Entmündigung, ein verordneter Ausschluss, der allen nützt, außer den Sklaven selbst. Davon profitieren nicht nur multinationale Konzerne, sondern letztlich wir alle – die privilegierte Mehrheit, die sich vorm Abstieg in Sicherheit wähnt. Den allermeisten Menschen, denen es besser geht, sind derartige Lebensumstände unbekannt. Es ist schwer nachvollziehbar, schier unbegreiflich, weshalb „Arme“ ihre Lebensbedingungen nicht einfach „verbessern“ oder „was aus sich machen“.
Umso wichtiger ist es, den Berichten und Geschichten von Betroffenen Sichtbarkeit zu verschaffen.